KINTSUGI – Die Goldverbindung
In der Begleitung von trauernden Menschen, höre ich manchmal die Frage oder die Aussagen: « Es zerreisst mir mein Herz», «ich fühle mich nicht mehr ganz» oder «es ist, als wäre ein Teil in mir auch gestorben».
Wenn uns etwas fortgenommen wird,
womit wir tief und wunderbar zusammenhängen,
so ist viel von uns selbst fortgenommen.
Rainer Maria Rilke
Wenn ein Spiegel zerbricht, drückt das etwas davon aus, wie trauernde Menschen sich fühlen. Selbst wenn die Scherben eines zerbrochenen Spiegels wieder zusammengeklebt werden, sieht mein Ebenbild im Spiegel nicht mehr aus wie vorher. Nichts passt mehr richtig zusammen, nichts ergibt mehr Sinn und wirkt verschoben. Zudem ist es nicht einfach und erfordert viel Zeit die Scherben wieder an die richtige Stelle zu legen. Die Scherben sind scharfkantig und spitzig, wenn wir nicht aufpassen, können wir uns daran schneiden oder einen Splitter unter die Haut bekommen. Es kann auch sein, dass ein Teil das Spiegels nicht mehr zu reparieren ist, weil die Teile zu klein sind, zu zersplittert, um wieder zusammengefügt zu werden. Dann entsteht dort eine Lücke, ein Loch. Der Spiegel wird nie wieder so aussehen wie er vor dem Zerbrechen ausgesehen hat.
Sie ahnen vielleicht schon, worauf ich hinaus will …
Was ist, wenn diese Gedanken und Empfindungen, wie mit dem Spiegel beschreiben, in unserem Innern passieren? Was, wenn der Spiegel symbolisch für unser Herz oder unsere Seele steht? Dann ist dieses Gefühl des Zersplitterns schmerzlich fühlbar, mit all unseren Sinnen, unserem Sein und es durchdringt sämtliche Teile des Lebens.
«In grossen Krisen zerbricht das Herz,
oder es wird zu Stahl.»
Honoré de Balzac
In Japan wird seit dem 15. Jahrhundert eine uralte Kunstform gepflegt, mit der zerbrochene Keramik liebevoll und achtsam repariert wird. Es handelt sich um einen Wiederherstellungsprozess, der grosse Sorgfalt und Geduld erfordert und sich über mehrere Etappen, die sich über Wochen, Monate oder gar bis zu einem Jahr hinziehen können. Die wiederhergestellte Keramik ist nach der Vollendung nicht mehr die «alte», in ihrem Sein jedoch wertvoller und einzigartig. Die Philosophie des KINTSUGI können wir auch auf unsere persönlichen Heilungsprozesse übersetzen.
Hier nun der Versuch, diese Prozesse des KINTSUGI als eine mögliche Ressource in der Trauer zu verstehen.
Zerbrechen
Kintsugi zeigt uns die Fragilität des Lebens auf und lehrt uns, dass Kostbares zerbrechen kann.
Die einzige Konstante im Leben ist die Veränderung und es ist ein Prozess, sich dem hinzugeben und diesen anzunehmen. Die Kunst liegt darin, an dieser Konstanten nicht zu zerbrechen und im Wissen darum, dass Leben mit Leben zu füllen.
In der Trauer sprechen wir hier von der Trauerreaktion «Überleben». Menschen funktionieren in dieser ersten Zeit, fühlen sich aber wie in Watte gepackt. Kommunikation ist möglich, was aber gehört wird und/oder davon verstanden wird, ist sehr unterschiedlich. Das Gefühl nicht ganz hier zu sein oder sich wie in einem schlechten Traum zu fühlen, beschreiben viele Menschen in dieser Zeit. Es ist ein Sein mit den Bruchstücken, aushalten. Einatmen und ausatmen.
Verbinden
Kintsugi zeigt uns, dass es ein vorher und ein nachher gibt und eine vollständige Wiederherstellung nicht immer möglich ist.
Es kommt die Zeit, in der die Bruchstücke zusammengenommen werden. Wer oder was hilft da? Wie nehme ich diese Bruchstücke auf, welchen Wert gebe ich ihnen? Die Bruchstücke vor sich zu sehen, lassen den Verlust schmerzlich erahnen und öffnen neue, ungeahnte Denkmuster und Ängste in alle Richtungen.
Hier kann bei trauernden Menschen das Gefühl von Kontrollverlust entstehen. Nicht mehr Herr oder Herrin der Situation, des Lebens zu sein und das Ausmass nicht abschätzen zu können. Die Bruchstücke immer wieder ins Auge zu fassen und zu ahnen, dass es nie mehr komplett und ganz werden wird, erfordert Mut und ist schmerzlich.
Mit den Reaktionen des Umfelds umgehen können und die Ohnmacht zu spüren, wie das Zerbrechen für andere Menschen ist. Das gehört zum Verbinden von Innen und Aussen – ein zerbrochenes, trauriges Herz, dass die Ohnmacht und Trauer des Umfeldes spürt und gleichzeitig den Ring der Verbundenheit und des Trostes annehmen darf.
In all dem erste Schritte wagen und erste Schritte machen in Richtung verbinden und zusammenfügen. Es stellen sich Fragen wie: Was ist die richtige Technik für mich? Wie muss, soll ich die Bruchstücke anfassen? Oder welchen Leim kann ich verwenden damit der Bruch auch nachhaltig hält und heilt? Und jede Frage tut weh, weil sie so nicht gestellt werden möchte…
Sich diesem Prozess immer wieder hingeben und ihn aushalten braucht viel Kraft. Es ist wichtig, zu spüren wann es Zeit dafür ist und wann etwas anderes wichtig ist, oder Platz haben darf. Die Bruchstücke dürfen auch ruhen und zu einem neuen Zeitpunkt, mit neuen Augen und neuem Gefühl wieder in die Hand genommen werden.
Sich gedulden
Kintsugi zeigt uns, dass Wiederherstellung und Heilung Zeit brauchen.
“Kintsugi zeigt uns, dass wir in tiefgreifenden Veränderungs- und Heilungsprozessen Geduld haben müssen. Wir wollen Veränderung herbeiführen und erkennen, dass wir in Momenten der Heilung nichts tun können.” Motoki Tonn
Eine grosse Herausforderung kann darin bestehen, die Bruchstellen und Wunden zu durchleben, anstatt sie zu durchdenken. Es kann helfen, zu weinen als sich «nur» Sorgen zu machen, und die Wunden tief zu fühlen als mit dem Kopf verstehen zu wollen. Trauernde sind herausgefordert, ein Gleichgewicht zu finden zwischen Kopf und Herz. Mit dem Kopf können wir analysieren, Ursachen und Folgen herausfinden oder darüber sprechen. Es hilft, und braucht Zeit, die Gefühle und Empfindungen auch ins Herz hinabsteigen zu lassen und so tief ins fühlen und erleben zu kommen. Aus diesen beiden Quellen, Kopf und Herz, kann Heilung entstehen und dieses Hin und Her braucht Zeit und Geduld.
Zeit ist ein wichtiger Faktor. Ich meine nicht, dass Zeit Wunden heilt. Sondern mehr, dass Zeit uns Raum verschafft. Innere Räume, in denen etwas reifen und so dann wieder ins Leben integriert werden kann. Äussere Räume, die verändert werden und verändert erlebt werden können.
Vergolden
Kintsugi zeigt uns eine andere Form der Schönheit.
Die Goldverbindung der Bruchstellen als eine andere Form der Schönheit anzunehmen kann ein langer, wenn nicht gar lebenslanger Prozess sein nach einem schmerzlichen Verlust.
Trauernde brauchen Schönheit! Diesen Ausdruck habe ich mir gemerkt, er stammt von meiner Ausbildnerin und ist ein treuer Begleiter in meinem beruflichen Alltag. Schönheit ist so vielseitig und individuell. Schönheit zu leben, braucht Mut und macht auch verletzlich. Schönheit kann ein direkter Kanal sein zu unserem ganzen Spektrum der Gefühle. So sind wir als Gesellschaft aufgefordert, die Schönheit der Goldverbindung in Menschen zu sehen und diese anzuerkennen in ihrer schmerzlichen und verletzlichen Schönheit.
Jede wiederhergestellte Schale zeigt: Ich bin gebrochen an verschiedenen Stellen. Ich habe vieles überstanden. Es hat Mühe und Zeit gekostet, wieder ganz zu werden, wieder neu gefüllt werden zu können. Aber genau das macht mich einzigartig.“ Nach Iris Macke
Als Bestatterin und Bestatter kommen wir mit den trauernden Menschen zur Zeit des Zerbrechens in Kontakt. Eine höchst fragile und durchlässige Zeit im Leben eines Menschen und seines Umfeldes. Das Wissen um dieses innere Zerbrechen hilft uns, die Menschen ruhig, klar und liebevoll zu begleiten in unserem Auftrag. Zudem ist es von grosser Bedeutung, die Goldverbindung als Haltung von Anfang an in uns zu tragen, bereits in der Zeit des zerbrochen seins. So können wir in der Begleitung Räume schaffen, die helfen, die Verbindung zu leben. Räume, die ermutigen, dass sich gedulden anzunehmen und auszuhalten. Wenn es gelingt, die Narben und Brüche zu vergolden, ist es unsere Aufgabe, diese Goldverbindungen anzuerkennen, zu würdigen und uns berühren zu lassen, von diesem grossen Kraftakt.
Mögen Sie die Kraft finden,
Ihre Wunden anzunehmen und sich auf den Weg der Heilung zu begeben.
Möge Ihnen Kraft zuteilwerden, die wirkt,
um den Heilungsprozess zu durchlaufen, der viel Geduld und Aufmerksamkeit erfordert.
Mögen Sie das Gold in Ihren Brüchen sehen und verstehen,
und wissen, dass Sie gerade mit Ihren Wunden geliebt, wertvoll und einzigartig sind.
Nach kintsugi-7-blessings
Beitrag verfasst von Christa Roth
Fotos von istockfoto.com